Eine Notwendigkeit und keine Option!
Wir haben fast alles, was wir wollen. Die Sättigungsgrenze ist bei vielen Produkten längst erreicht: Jedes weitere Produkt, das wir kaufen, macht uns weder zufriedener noch glücklicher und dieser Konsum konfligiert zunehmend mit den planetaren Grenzen. Trotzdem müssen wir wachsen: Das BIP, jede Unternehmung und jede Organisation. Wachstum in diesem Sinne stellt ein entscheidendes Kriterium dar für den Erfolg einer kapitalistischen Wirtschaft und es ermöglicht, dass Unternehmen mehrheitlich Gewinne machen. Wir verlassen diese Art des Wirtschaftens auch nicht, wenn wir Glück und Zufriedenheit als wirtschaftliche Kennzahlen messen. Was mit Staaten und Unternehmen passiert, die nicht mehr wachsen ist in der täglichen Medienberichterstattung gut dokumentiert.
Wir haben fast alles, was wir wollen.
So geht das nicht weiter, oder doch?
Die einen benennen es als Wachstumszwang, die anderen weisen auf eine dynamische Stabilisierung hin. Bereits mein Vater hat vor nun schon vierzig Jahren darauf hingewiesen: So geht das nicht weiter. Aber es geht weiter und der beispiellose Siegeszug des kapitalistischen Wirtschaftens macht dieses „Weitergehen“ alternativlos. Wir sind im Alltag in dilemmatischen Konfigurationen gefangen: Jeder Airline und jeder Flughafenbetreiber muss wachsen. Tun sie das nicht und bleiben an Ort stehen, hat das sehr schnell wirtschaftliche Konsequenzen: Arbeitsplätze, Dividenden, das gesamte Unternehmen und die Region sind in Gefahr.
Lassen sich Ökonomie und Ökologie überhaupt unter einen Hut bringen?
Jenseits der 24
Und dann ist da noch das Davos-Manifest 2020, das den Kreis noch runder und die 25. Stunde noch länger macht. Weg von Shareholder-Value und hin zum Stakeholder-Value. Unternehmen sollten geprägt sein von nachhaltiger Wertschöpfung, von würde- und respektvollem Umgang mit den MitarbeiterInnen und ihre Aktivitäten sollen der Gesellschaft als ganzen dienen. Lassen sich Ökonomie und Ökologie überhaupt unter einen Hut bringen? Ist Nachhaltigkeit wirklich die Synthese dieser beiden Begriffe? Gibt es in einer nachhaltigen Wirtschaft grundsätzlich noch einen Ansporn zu weiterem Wachstum? Sind wir abhängig vom Wachstum und all seinen Heilsversprechungen? Und sind wir in der irritierenden Situation gefangen „in der nicht mehr die Menschen das Wachstum vorantreiben, sondern der Wachstumszwang die Menschen antreibt“? (Binswanger, 2019, S.234)
„(...) in der nicht mehr die Menschen das Wachstum vorantreiben, sondern der Wachstumszwang die Menschen antreibt“? (Binswanger, 2019, S.234)
Geldschöpfung
Damit Wirtschaften kein Nullsummenspiel sind, braucht es den Zufluss von neu geschaffenem Geld. Es braucht Geldschöpfung. Das zusätzliche Geld wird investiert und „erhöht nicht nur die Einkommen der Unternehmen, sondern führt auch zu einer Mehrproduktion von Gütern und Dienstleistungen.“ (Binswanger, 2019, 51f).
Die aktuelle Form des Wirtschaftens hat deshalb nur zwei Option: zu wachsen oder zu schrumpfen, womit klar ist, dass wir wachsen müssen!
Zeitschöpfung ist ein Nullsummenspiel
Was wir deshalb im Alltag versuchen, und dies zu verstehen ist grundlegend wichtig, ist nicht anderes als die Schaffung zusätzlicher Zeit, die Zeitschöpfung. Einen Zeitgewinn zu erreichen ist ein Nullsummenspiel. Die Summe der zur Verfügung stehenden Zeit ist stationär, deshalb ist besagter Zeitgewinn nur möglich, wenn ich eine zusätzliche Handlung anstelle einer bisherigen Handlung mache oder die bisherige ganz weglasse. Eine weitere Möglichkeit wäre natürlich auch, die bisherige Handlung zu delegieren und sie durch jemanden anderen ausführen zu lassen. Die Stücke des Zeitkuchens werden also bei zusätzlichen Handlungen kleiner. Mit andern Worten: Zeit ist nicht substituierbar und die zu verteilenden Zeitstücke werden immer kleiner.
Die Arbeit an der 25. Stunde ist nicht anderes als der vergebliche Versuch der Zeitschöpfung!
Martin Binswanger (2019): Der Wachstumszwang. Warum die Volkswirtschaft immer Weiterwachsen muss, selbst wenn wir genug haben. Wiley.
Hartmut Rosa (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Suhrkamp.
Diesseits der 24. Stunde: Wir sollten uns mit den Nebenwirkungen des bestehenden ZeitRegimes befassen und nicht an der 25. Stunde bauen; denn da gibt es ein Problem.
"Eine Stunde Zeit" bietet die Möglichkeit des „Weniger ist mehr“ und erweitert möglicherweise das Handeln durch den Begriff des Unterlassens und des Nichttun. Weniger „Immer und Überall“ führt zu mehr Raum und Zeit im „Hier und Jetzt“.
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