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Von der Würde im Alltag



Publiziert am 1.10.2017 auf: www.geistundgegenwart.de.

Das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt: Von der Würde im Alltag

Für jeden Menschen ist es wichtig, dass er selber Entscheidungen treffen kann. Abhängigkeit von anderen Menschen fühlt sich unangenehm an. Menschen haben grundsätzlich das Bestreben, solche Situationen zu vermeiden, oder ihnen aus dem Weg zu gehen. Unabhängigkeit und Selbstständigkeit ist ein hohes Gut. Wenn der Schweizer Philosoph Peter Bieri in seinem Buch „Eine Art zu leben“ von Würde spricht, so meint er Würde als einen Lebensentwurf. Er beschreibt Würde als ein „Muster des Denkens, Erlebens und Tuns“ (Peter Bieri, Eine Art zu leben, S. 10), als „innerer Kompass unseres Lebens“ (Ebd., S. 15).

Bieri unterscheidet drei Dimensionen von Würde: Erstens geht es um die Art und Weise, wie andere mich behandeln, zweitens geht es um die Frage, wie ich andere behandle und drittens steht mein Selbstbild, und damit die Frage, wie ich mich selbst behandle, im Vordergrund. Wichtig für meinen Zusammenhang ist auch Bieris Argumentation, wie und unter welchen Bedingungen Würde verloren gehen kann. Werden Menschen als Subjekte missachtet, so entsteht ein Gefühl von Demütigung. Bieri beschreibt Demütigung als eine „Erfahrung von Ohnmacht“. Ohnmacht ist dann gegeben, wenn eine bestimmte Macht fehlt: die Macht einen für das eigene Leben entscheidenden Wunsch zu erfüllen. Um noch einmal Peter Bieri zu zitieren; „Demütigung ist demonstrierte Ohnmacht“ (Ebd., S. 13). Auch Willkür als das bewusste Auslassen von Handlungsoptionen, fällt damit unter Ohnmacht, die mit Demütigung verbunden ist. In dieser Situation ist die Würde stark in Gefahr oder geht verloren.

Was passiert, wenn die Würde verloren geht?

Radikalisierung von Handlungen

In einer kürzlich von der UNDP veröffentlichten Studie, die sich mit der Radikalisierung von jungen Afrikanern beschäftigt hat, kamen die Autoren und Autorinnen zu Schluss, dass es nicht primär religiöse Gründe sind, die Jugendliche in die Arme von Terrorgruppen treibt. Gründe dagegen sind Erfahrungen von Ohnmacht und Willkür; bei vielen bereits in der Kindheit. Chancenlosigkeit und im eigenen sozialen Umfeld erfahrener Machtmissbrauch werden als mächtige Antriebskräfte genannt, damit sich Jugendliche extremistischen Organisationen mit religiösem Fundament anschliessen. Wen wunderts, sind doch die erlebten Situationen Gründe, die mit dem Verlust der eigenen Würde einhergehen. Der Verlust der Würde (oder der mögliche Verlust) steht meiner Meinung demnach in einem engen Zusammenhang mit der Gefahr, dass dadurch der Sinn des eigenen Lebens grundlegend infrage gestellt wird. Kein Mensch kann den Verlust der eigenen Würde einfach so hinnehmen. Bis zu einem gewissen Grad kann man bei der Bedrohung von Würde sich in der „inneren Zitadelle“ (Ebd., S. 27) verstecken und so scheinbar alle Angriffe auf die Würde aussen abprallen lassen. Kommen aber, wie im Beispiel der afrikanischen Jugendlichen, Chancenlosigkeit, Machtmissbrauch und Willkür zusammen, so drohen alle Schutzdämme zu brechen und die Würde geht verloren. Das dadurch erzeugte Verstummen aller sinnstiftenden Weltbeziehungen führt dazu, dass normative Werte keinen Einfluss mehr auf Alltagshandeln haben und alles erlaubt scheint, was dem betroffenen Menschen in irgendeiner Form Erleichterung und Genugtuung bringt. Das Tor zu extremen Handlungen ist dadurch weit geöffnet und das Werben entsprechender Gruppen findet fruchtbaren Boden. Diese extreme Form der Entfremdung ist die Spitze des Eisberges.

Radikalisierung von Gedanken.

Was passiert aber, wenn Menschen in industrialisierten und modernen Gesellschaften Erfahrungen des Verlustes oder der Gefährdung der Würde machen? Wenn Kinder in Familien und Schüler in der Schule Demütigung erfahren, wenn Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz Ohnmacht und Demütigung erfahren? Meine These ist, dass diese Menschen nicht so radikalisiert werden, dass sie jegliche Brücken zum Alltagsleben abbrechen, aber dass eine gedankliche Radikalisierung stattfindet. Eine gedankliche Radikalisierung ist demnach gegeben, wenn auftauchende und mitunter komplexe Fragen konsequent mit einfachen Antworten gelöst werden. Wenn der Jugendliche auf alle Versuche Politik in irgendeiner Art und Weise schmackhaft zu machen mit der Aussage reagiert, dass „die da oben ja sowieso machen was sie wollen“ und dieses Thema sowieso überhaupt nicht interessant sei.

Bildung und Würde

Für einen jungen Menschen kann die Ohnmacht darin bestehen, den gewünschten Beruf nicht erlernen zu können. Jeder Jugendliche hat einen Berufswunsch. Wenn er ihn nicht erfüllen kann, ist er gezwungen, sich einen Beruf der nächst unteren Prioritätsstufe auszusuchen. „Besser diesen Beruf, als gar keinen“. Das alleine muss noch keine Demütigung sein. Die Ohnmacht ist dem Lernenden einfach zugestossen. Wenn der Lernende in der Schule schlechtere Leistungen bringt, als erwartet oder als andere, kann dies als eine Ohnmachtssituation beschrieben werden. Eine Demütigung in dieser Situation hat mit anderen Menschen zu tun. Demütigung tritt dann eine, wenn gezielt eine Ohnmachtssituation herbeigeführt wird. Noch stärker wird die Demütigung, wenn derjenige, der gezielt eine Ohnmacht herbeiführt, diese Situation auch noch geniesst und auskostet.

Jeder Schüler und jeder Lernende hat eine Würde. Kein Lernender möchte vom Willen und der Macht anderer Menschen abhängig sein. Jede Lehrperson hat die Möglichkeit Lernende in diesem Sinne abhängig zu machen. Sei es bei der Durchsetzung von Regeln oder der Bewertung von Leistungen. Sei es beim Eingehen auf Fragen und Wünsche oder der Reaktion auf Störungen. Wenn die Schule zur Entfremdungszone wird, sind aber nicht nur die Lernenden betroffen, auch die Lehrenden kennen Situationen, in denen die Würde in Gefahr ist. Jeder Lehrer kennt Momente der Ohnmacht. Der Grat ist schmal und schnell ist die Grenze überschritten und der Lehrer hat den Eindruck, dass ein Schüler oder eine Schülerin die demütigende Situation auch noch geniesst.

Viele Situationen im Unterricht lassen beim Lernenden und Lehrenden den Eindruck entstehen, es geschehe etwas mit seiner Würde.

Arbeit und Würde

Nicht anders sieht es im Arbeitsalltag aus. Der HR-Barometer der Universität Zürich und der ETH Zürich zeigte 2016 deutlich, dass zynisches Verhalten zunimmt. Zwei von drei Befragten sagten, dass sie gegenüber ihren Vorgesetzten ab und zu zynische Bemerkungen manchen würden. Jüngst ist im Tages-Anzeiger aus Zürich ein Artikel erschienen, in dem auf eine Loyalitätskrise zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber hingewiesen wird. Die HR-Barometer zeigte, dass jeder vierte Beschäftigte davon ausgeht, dass gewisse Versprechen seitens des Unternehmens gebrochen wurden und jeder Dritte sieht die Beziehungen innerhalb des Unternehmens als nicht „vollumfänglich zufriedenstellend“ an. Unternehmen bilden ihre Mitarbeiter immer weniger aus, mit dem Argument, dass diese sowieso bei einem besseren Angebot sofort die Stelle wechseln. Arbeitnehmer und Arbeitgeber haben scheinbar kein Vertrauen mehr zueinander. Auswahl im Sinne von kriterienbasierter Selektion, scheint viel billiger, schneller und effizienter zu sein, als dass man Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen weiterentwickelt. Ich sehe Zynismus am Arbeitsplatz als eine gedankliche Radikalisierung an; man hat ja sowieso keine Hoffnung mehr, dass sich irgendetwas zum Guten ändern wird. Auch fehlende Loyalität deutet auf einfache Antworten zu lebensweltlichen Fragen hin: Man macht sich nicht mehr die Mühe, ein Vertrauensverhältnis herzustellen und gemeinsam eine Basis zu finden. Lieber gerade eine neue Stelle. Für mich ist das auch eine gedankliche Radikalisierung. Wenn man davon ausgeht, dass Menschen mit aller Macht versuchen, demütigenden Situationen aus dem Weg zu gehen, so deutet für mich sowohl die Zynismuszunahme wie auch die Loyalitätskrise darauf hin, dass viele Menschen in der täglichen Arbeitswelt demütigende Erfahrungen machen, bis hin zur Gefahr des Verlustes der eigenen Würde.

Keine Zeit für Würde.

Wenn man seinen eigenen Lebensweg betrachtet, so hat man in vielen Alltagssituationen in der Schule, bei der Arbeit und im Zusammenleben das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt. Sei es das Gefühl, dass einem die Hände gebunden sind oder das Gefühl, dass man in einer Situation steckt, in der jede Argumentation sinn- und zwecklos ist. Vielleicht deuten diese Gefühle darauf hin, dass etwas mit unserer Würde passiert, dass wir nicht mehr Selbstzweck sind, sondern nur noch Mittel zum Zweck. Würde hat im streng getakteten Alltagsverlauf weder Priorität noch Platz; denn Würde als „Muster des Denkens, Erlebens und Tuns“ braucht Zeit und Musse.

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