top of page

Inseln der Gelassenheit. Arbeitsbelastung und Gesundheit im Lehrerberuf


​​


Etliche Studien weisen darauf hin, dass die Belastung in der Schule und am Arbeitsplatz zunehmen. Das Thema Gesundheit ist im Lehrerberuf und generell in der Arbeitswelt in aller Munde. Eine grosse Zahl von Artikeln ist zu diesem Thema veröffentlich worden. Beratungsbücher und Glücksratgeber helfen den Menschen darin, Kraft- und Zeitfresser zu lokalisieren. Einträge in der To-do-Liste werden priorisiert und der Tageszeitplan optimiert. Es werden Techniken angeboten, wie man sich in Pausen erholen und entspannen kann. Inseln der Entspannung werden immer wichtiger: Autogenes Training und Joggen über Mittag, Bewegungspausen und Entspannungsübungen. „Abschalt-Techniken“ erleichtern den nahtlosen Übergang in die Freizeit. Trotzdem nimmt die Belastung von Jahr zu Jahr noch mehr zu.

Work-Life-Balance

Warum das? In einer individualisierten Gesellschaft ohne ethischen Horizont wird man wahrscheinlich dazu tendieren, als Antwort zu sagen: Mann und Frau haben ihre Alltagshandlungen nicht effizient organisiert. Ihr Zeitmanagement lässt zu wünschen übrig und ihre Work-Life-Balance ist nicht ausgeglichen. Erfolg und Misserfolg werden dabei individualisiert: Jeder ist selber schuld, wenn er es nicht schafft.

Hamsterrad

Die viel unangenehmere und ernüchternde Antwort wird oft unter den Teppich gekehrt: Die Steigerungslogik moderner Gesellschaften führt dazu, dass Menschen auch nächstes Jahr, trotz aller Effizienzsteigerung und Optimierung, noch einmal schneller sein müssen. Versinnbildlicht wird dieser Prozess mit dem Bild des Hamsterrades. Wir werden zwar immer schneller, effizienter und besser, kommen aber trotzdem nirgendwo hin.

Inseln der Gelassenheit

In einer im Bündner Schulblatt publizierten Untersuchung werden Belastungsfaktoren im Schulalltag untersucht. Die grössten Belastungsfaktoren sind die hohen Ansprüche der Lehrer und Lehrerinnen und der Hang zur Perfektion. An dritter Stelle folgen dann Administration, Schulreformen und Erneuerungen. Die ersten zwei Faktoren werden dabei dem persönlichen Bereich der Lehrpersonen zugeordnet. Präventionsmassnahmen sollen nun in den ersten beiden Bereichen greifen. Die Ansprüche und Perfektion von Lehrpersonen müssen relativiert und vermindert werden. Mit anderen Worten: Um die Belastung zu reduzieren müssen die Lehrpersonen in einem Meer aus Wettbewerb und Steigerung zu Inseln der Gelassenheit werden und sich durch vernünftige Ansprüche gegenüber sich selber auszeichnen. Es gibt grossen Zweifel, ob im Bildungssystem, das sich mitten in der Steigerungs- und Selektionslogik befindet, solche Forderungen angebracht und erfolgversprechend sind. Lehrpersonen stellen nicht einfach so hohe Forderungen an sich selber, sondern sind Teil des Ganzen, das sich steigern muss. Mehr Gelassenheit und tieferes Anspruchsniveau können daher meiner Meinung nach nicht die Ursachen für weniger Belastung im schulischen Alltag sein.

Individuell und situationsbedingt

Hohe Arbeitsbelastung ist kein individuelles, sondern ein strukturelles und institutionelles Problem. Es bringt wenig, Lehrpersonen auf individueller Basis situationsbedingt für das Problem zu sensibilisieren. Senkt eine Lehrperson die Arbeitsbelastung eines Tages oder einer Woche, führt das dazu, dass nächste Woche umso mehr zu tun bleibt. Senkt man das Anspruchsniveau dauerhaft, so läuft man Gefahr im Wettbewerb um Anerkennung und Berufsprestige abgehängt zu werden. Wer will das schon!

Die Allokation von Ressourcen geschieht in modernen Gesellschaften über Markt und Konkurrenz. Das Konkurrenzsystem wird zunehmend verallgemeinert: Wir konkurrieren um Freunde und Anerkennung, Status, Bildungsabschlüsse, Stundenpläne, Jobs, generell um alles, was es zu verteilen gibt.

Legitime Erwartungen

Gefragt sind viel eher kollektive Mechanismen, die es den Lehrpersonen erlauben, ein gutes und gelingendes Arbeitsleben zu führen. Nicht die Lehrpersonen müssen durch Wort-Life-Balance und Zeitmanagement gelassener werden, sondern Institutionen sollten ein Beziehungsklima, eine Zeitkultur zur Verfügung stellen in der weniger legitime Erwartungen gestellt werden.

49 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen
bottom of page